Traumfänger

 

Artonomes Reservat: ARTOKRATIE IKTOMIA


Wir fanden ihn in einer Regennacht. In einer Nacht, in der das dumpfe Tosen des Sturms einen seltsamen Atemzug lang schwieg. In einer Nacht, in der sich einen seltsamen Atem­zug lang ein Licht wie von Fackeln zeigte unter der lastenden Schwärze der Bäume. Wir fanden ihn in einer Nacht jagender Wolken, einer Nacht wie aus dem Anbeginn der Zeit. Wir fanden ihn in einer Nacht, die nicht gewesen war wie andere Nächte.

Manche von uns sagen, er habe am Fuß der Brücke gelegen, und ein Schimmern sei von ihm ausgegangen, wie von blassweißem Blau. Manche von uns sagen, sie hätten ihn zwischen den Seerosen gesehen, inmitten kreisrunder Wellen, und doch sei kein Tropfen Wasser an ihm gewesen. Einige von uns sagen, er habe geschwebt. Andere von uns erinnern sich an einen sphärischen Ton, ein elektrisierendes Zittern der Luft. Wieder andere von uns sagen, es habe geklungen wie beschwörender Gesang oder der Ruf eines Vogels.

Wir fanden ihn in einer Regennacht. Eine Handspanne groß. Ein Ring aus Weidengezweig, in seiner Mitte eine kreisrunde Öffnung, um sie ein Geflecht aus Hirschsehnen und Farnfasern wie das labyrinthische Netz einer Spinne, verziert mit irisierendem Perlmutt und farbigem Ton, mit Rinde und Federn. Etwas war hier gewesen in dieser Nacht. Etwas wie von weither in Raum und Zeit, und uns doch vertraut wie nichts je zu­vor. Hatte uns eine Bot­schaft gesandt. Hatte uns verändert.

Wir haben ins knisternde Glimmen des Feuers geschaut, haben nachgedacht­, Pläne erwogen, geschwiegen, die Stille genossen. Haben betrachtet, was hinter uns liegt. Haben uns gefragt, was kommen würde. Haben gegrübelt und gelächelt, uns der Melancholie überlassen und dem Mut. Und wir waren uns einig gewesen, dass es Augenblicke wie dieser sind, für die man lebt. Einig, ohne es aussprechen zu müssen.

Der Regen rann. Sättigte die Erde. Troff von den Zweigen. Und dann, fast unmerklich, war da dieses Innehalten gewesen. War das Jetzt einen Wimpernschlag lang ein Immer gewesen, das Hier einen Wimpernschlag lang ein Überall. War alles mit allem zu einer Ganzheit verschmolzen, wie sie uns nur in den besten Momenten unseres Daseins offenbar wird, den allerbesten, Momenten der Liebe, der Schöpferkraft, des wahren Verstehens.

Träume! Es war, als hörten wir eine innere Stimme in jener späten Nacht, an jenem frühen Morgen. Träume! Es war eine unhörbare Stimme, und doch war sie so unüberhörbar wie es nur Stimmen sind, die etwas zu sagen haben, das nicht verhallen darf. Träume! Es war eine jener Stimmen, die keine Sprache braucht. Und was sie sagte, war nur dieses eine Wort. Aber sie sagte es in einer Weise, die unendlich viel mehr sagte als alle Worte aller Bibliotheken der Welt. Manche von uns waren sich sicher, es habe sich anders angehört. Nach: Sehnsucht! Nach: Hoffnung! Nach: Werden! Nach: Sinn! Alle von uns aber hatten gespürt, dass etwas geschehen war mit ihnen.

Wir hatten nachgedacht­, Pläne erwogen, geschwiegen, die Stille genossen. Doch dann war da dieses Innehalten gewesen. Dieses Immer, dieses Überall. Und wir hatten gewusst, dass es Zeit war, hinaus zu gehen. Hinaus in den Sturm. Hinaus in den Regen. Hinaus zu gehen, weil uns dort etwas erwartete. Und wir waren hinaus gegangen. Einig, ohne es aussprechen zu müssen. Und etwas hatte uns erwartet.

Ein Ring aus Weide, darin ein Netz wie das einer Spinne? Das Rätsel war nicht, was es war. Ein Netz, die dunklen Träume von uns fernzuhalten, bis das Licht des Morgens sie auflöst. Ein Netz, die hellen Träume zu uns durchzulassen, weil es Augenblicke der Helligkeit sind, die uns am deutlich­sten zeigen, wer wir sind, was wirklich wichtig ist für uns. Sein Rätsel war nicht, aus welcher Legendenwelt er stammte. Das Rätsel war, wie er zu uns gekommen war. Das Rätsel war, aus welchem Grund.

Was wir vor uns sahen, war ein Traumfänger. Aber es war kein Traumfänger, wie wir ihn kannten. Dieser hier war alt. Sehr, sehr alt. So alt wie die Welt. Und seine Federn waren von keinem Vogel, wie es sie hier bei uns gibt. Wir begannen zu suchen. Stießen auf die Azteken. Auf die Schildkröteninsel und die Magie von Asibakaashi. Auf Iktomi, den weisen Leh­rer der Lakota. Auf Legenden einer Vision. Einer Vision über den Kreis des Lebens. Über richtige Richtungen und fal­sche. Über die Harmonie mit der Natur, mit uns selbst. Über die Schatten der Realität.

Etwas war hier gewesen in dieser Nacht. Hatte uns eine Botschaft gesandt. Hatte uns verändert.

Niemand von uns schlief viel in dieser Nacht, die nicht war wie andere Nächte. Doch so wenig wir schliefen, so reich waren unsere Träume. So klar, so licht, so bestärkend. Manche von uns träumten davon, einen Ort des Sinns und der Sinne des Lebens zu erschaffen, einen spirituellen Ort der inneren Sammlung, dauerhaft und doch stets im Wandel. Manche von uns träumten von einem Ort der Offenheit und Leidenschaft, des Neulands und des Experiments, der verändernden Kraft der Träume. Manche von uns träumten, einen Ort der Besinnung auf die erfüllende Erfahrung des Alltags zu erschaffen, des sinnlichen Genießens des Einfachen. Alle von uns träumten, in sich die Sehnsucht zu bewahren, sich niemals mit weniger abzufinden als mit der Einheit von Geist, Gefühl und Seele.

So begann IKTOMIA.

Was mit dem uralten Ring aus Weide geschah? Irgendwann war er verschwunden. Nur eine Feder ist von ihm geblieben. Für die Leichtigkeit steht sie uns. Für die Leichtigkeit, die heute fast niemand mehr verspürt – weil heute fast niemand mehr sich fragt, was wirklich zählt.

So begann IKTOMIA.

Und wir spürten: Vieles von IKTOMIA war schon lange bei uns, bevor der uralte Ring aus Weide zu uns kam und von uns ging. Jetzt galt es, diese Viele zu bündeln.

Was IKTOMIA ist?

IKTOMIA ist ein Ort, an dem nicht alles besser ist als an allen anderen Orten. Auch in IKTOMIA gibt es Zweifel, Unsicherheit, Schwäche, nachlassende Wachsamkeit und Neugier, sinkenden Mut. Vielleicht ist Iktomia auch gar nicht neu. Vielleicht gab es Iktomia schon immer. Vielleicht ist IKTOMIA in Wahrheit überall. In jedem von uns. In jedem Augenblick jeden Lebens. Nur bisweilen fehlt das Bewusstsein dafür, dass sie da ist, diese Sehnsucht nach Einheit und Einfachheit. Auch, weil zu vieles sie überlagert. Vieles, dass Anforderungen an uns stellt, die nur vermeintlich wichtig sind.

Iktomia ist ein künstlerisches Shangri-La, eine gedankliche Zuflucht, die uns zurückführt zu unserer Sensibilität. Durch das Rauschen seiner Wasser, die Düfte seiner Pflanzen, die Laute seiner Tiere. Durch seine Riten und Arten. Durch seine Refugien der Stille.

Sein Wappenzeichen ist die Feder. Manche sagen: ein Stück Anatomie. Für uns ist das anders. Wir denken dabei an die Hieroglyphen des alten Ägypten, wo die Feder für die Wahrheit stand. An all die Völker, die in der Feder die Verkörperung der Luft sahen, der Freiheit.

IKTOMIA.

Wer hierher kommt, kommt hierher, weil er bereits anders denkt als andere. Wer hierher kommt, kommt hierher, weil er vielleicht schon immer hier war. Wer nicht hierher kommt, ist vielleicht dennoch stets hier. Und wer IKTOMIA wieder verlässt, verlässt es in dem Bewusstsein, dass dieses Anderssein so wichtig ist, dass er es hinaustragen muss in die Welt. Vielleicht kann man IKTOMIA auch gar nicht verlassen. Alles ist möglich.

Warum IKTOMIA ein Reservat ist? Weil heute nur wenige verstehen, was es bedeutet, nicht mehr zu träumen: schon tot zu sein, während man noch lebt.

Was IKTOMIA Artonomie verleiht? Hier ist die Kunst zu Hause, als Mittel der Veränderung. Und an seinen Grenzen beginnt und endet die wahre Freiheit.

Etwas war hier gewesen in jener Nacht. Hatte uns eine Botschaft gesandt. Hatte uns verändert. Viel ist seither geschehen. Viel wird noch geschehen. Mit uns. Mit anderen.

Träume. Wer sie fängt, für sich und für andere, verändert die Welt.

Wir alle wissen das. Schon lange.

Träumt! Und: erwacht!

Wir fanden ihn in einer Regennacht. Wir fanden ihn in einer Nacht, die nicht gewesen war wie andere Nächte. Wir verstanden. Verstanden, dass es Zeit war, neu aufzubrechen. Nicht: anderes zu tun als zuvor. Aber: etwas zu tun, dass anders sein würde.